Cronotastische Weihnachten

Türchen 9

Willkommen im neunten Türchen. Heute hab ich was ganz Besonderes für Dich: Das erste Kapitel eines noch unveröffentlichten Manuskripts von mir. Verrate mir doch, was Du davon hältst und ob Du mehr lesen willst. Ich würde vorschlagen, wir springen direkt in die Geschichte. Du wirst schnell auch ohne Vorstellung bemerken, worum es geht. 🙂

Perception
Der Anfang vom Ende

Wer Böses tut, der tue weiterhin Böses, und wer unrein ist, der sei weiterhin unrein; aber wer gerecht ist, der übe weiter Gerechtigkeit, und wer heilig ist, der sei weiterhin heilig. Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir, einem jeden zu geben, wie seine Werke sind.

Offenbarung 22,11f

Prolog

Wenn die Apokalypse bevorsteht, ist ein Engel so ziemlich der idealste Partner, den man sich wünschen kann. Wenn man allerdings vor hat, die Apokalypse aufzuhalten, dann kann ein Engel auch hinderlich sein. Dieses Geflügel ist in dem Punkt einfach zu dienstversessen und prinzipientreu.

Aber sie sind auch vollkommen selbstlos und der Schutz der Menschen ist Teil ihrer Jobbeschreibung – und das kann ein verdammtes Glück sein im entscheidenden Moment.

Kapitel 1

Als ich Nate kennenlernte, rettete er mir, Polizeikommissar Peter Langenfeld, Direktion C12, Berlin-Mitte, und zwei Duzend Zivilisten gerade das Leben. Ich war im Einsatz. Eine Geiselnahme in der Sparkasse am Alex. Eine Rarität. So blöd war eigentlich keiner. Man hatte mich als Verhandler hinzugerufen, da ich sowieso vor Ort war. Der Rest meines Teams wartete im Kommandobüro in Tempelhof auf einen Anruf des Geiselnehmers. Die Zielperson war einer dieser besonders verzweifelten Menschen, die glaubten, es sei eine gute Idee, sich selbst zu einer Bombe zu machen.

Offenbar war der Täter aber immerhin klug genug gewesen, die Kameras unschädlich zu machen und das WiFi lahmzulegen. Also hatte man mich reingeschickt, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Ich war als Sanitäter getarnt, der sich um einen verletzten Mann von der Security kümmern sollte. Falls meine Tarnung auffliegen sollte, hatte ich den Befehl, den Täter auf die eine oder andere Weise zur Aufgabe zu überreden.

Auch wenn man Polizisten nachsagte, sie spielten gern Cowboy: Die meisten von uns zogen es vor, ihren „Colt“ stecken zu lassen. Deshalb war auch ich reingeschickt worden anstelle einer Blendgranate und den Jungs von der Einsatzhundertschaft in Spandau. „Deeskalation statt Explosion“ war das Motto.

Mit Worten eine Bombe entschärfen. Wie ich den Optimismus meiner Kollegen doch liebte. Der Geiselnehmer war psychisch alles andere als stabil und hatte seine verschwitzten, zittrigen Finger um einen Totmannschalter gelegt. Die Augen waren blutunterlaufen und der Blick unruhig. Der Mann war unberechenbar. Ich ging im Kopf unsere Optionen durch, prägte mir Anzahl und Position der Geiseln ein und versuchte, einen Weg zu finden, nur den Bombenträger zu opfern. Er konnte jeden Moment mit seinem Finger von diesem winzigen, roten Knopf rutschen.

Und dann passierte es: Eine der Geiseln stand langsam auf – direkt vor den Augen der wandelnden Bombe. Ein Durchschnittstyp in den 30ern. Jeans, weißes, ungebügeltes Hemd, ausgetretene Turnschuhe. Irgendein Angestellter der nahegelegenen Büros vielleicht. Oder ein Student im zwölften Semester BWL. Für einen Mitarbeiter der Bank jedenfalls sah er nicht genug wie ein blasierter Pinkel aus. Mein erster Gedanke war nur: Verdammte Scheiße. Dicht gefolgt von: Ein selbsternannter Hobby-Held. Ich wollte den Geiselnehmer ablenken, in ein Gespräch verwickeln, aber es war zu spät. Dieser Lebensmüde ging direkt auf ihn zu. Er ruinierte die ganze Operation! Ich würde mich outen müssen, eingreifen, die beiden irgendwie stoppen – aber dann würden wir wahrscheinlich alle das zeitliche segnen.

         ›Das zeitliche segnen‹. Die Wendung wird ihm garantiert gefallen, sollte er das hier jemals lesen.

Zumindest ging dieser Verrückte direkt auf Rob zu – ja, der Bombenträger hieß Rob alias Robert Tabarius: 47, insolventer Unternehmer, Familienvater und (immerhin) treuer Ehemann mit einem außer Kontrolle geratenen Alkoholproblem. Das wusste ich nicht dank meines vorzüglichen Profilings, sondern dank des Verhörs nach dieser Aktion; denn der Hobby-Held schaffte es tatsächlich, dass wir alle überlebten. Er hypnotisierte Rob regelrecht. Ich hatte noch nie einen so intensiven Blick erlebt. Ich kam mir vor wie ein Voyeur. Und dann umarmte dieser Typ Rob und nahm ihm den verdammten Totmannschalter aus der Hand, um ihn selbst festzuhalten! Er redete die ganze Zeit leise auf ihn ein, aber ich verstand kein einziges Wort.

Ich verstand nur, dass das unsere Chance war, das alles friedlich und vor allem lebendig zu beenden. Als das kuschelnde Bombenbündel langsam auf die Knie sank, gab ich den Befehl zum Zugriff. Jetzt ging alles ganz schnell – auch wenn es den beiden Bombenträgern sicher nicht so vorkam. Die Geiseln wurden von den Jungs vom SEK evakuiert und das Entschärfungskommando rollte an. Die Kollegen berichteten mir, dass der Fremde weiter mit Rob redete, ihn ruhig hielt. Als die Bombe entschärft war und Rob statt seines hochexplosiven Gürtels silberne Armreife trug, war der ›Held‹ weg. Wir hatten nicht einmal einen Namen. Es war klar, dass sich die Medien auf diese Sache stürzen würden. Ich sah schon die BILD-Schlagzeile vor mir: »Berlins Schutzengel verhindert Amoklauf.« Das Wort ›Amok‹ mochten die Medien besonders gern, auch wenn eine Geiselnahme und ein Amoklauf prinzipiell zwei völlig verschiedene Dinge waren.

Das war das erste Mal, dass mich dieser geflügelte Bastard ohne Antwort zurückließ. Dass das zur Gewohnheit werden würde, war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht klar. Aber auf der anderen Seite war es auch nicht besser, Zeuge seiner ›Antwort-Geschichten‹ zu werden …

***

Bevor der Einsatz vor Ort beendet war und die Phase des Berichtschreibens begann, war der Tag vorüber. Ein verdammt langer Tag. Und es gab nichts Besseres nach einer langen Schicht als einen starken Kaffee. Außerdem war das der einzige Weg, bei Bewusstsein und ohne Unfall sein Zuhause zu erreichen. Da ich weder gewillt war, 7,95 Euro für einen Kaffee zu zahlen noch aufgewärmtes Wasser an einer Tanke zu trinken, steuerte ich einen kleinen Coffee-Shop in einer Nebenstraße im F-Hain an. Friedrichshain lag sowieso auf meinem Weg.

Ich hatte keine Ahnung, woher mitten in der Nacht so viele Leute kamen, die Kaffee brauchten. Aber es kam einer Erlösung gleich, als ich endlich an der Reihe war. »Einen Schwarzen bitte. Ohne alles. Zum Mitnehmen.«

»Alles klar. Und ihre Begleitung?«

»Meine Was?« Mir war in meinem jetzigen Zustand wohl kaum eine charmante, weibliche Begleitung nachgelaufen. Ich drehte mich um und hatte schon vorher so eine Ahnung, dass ich es nicht hätte tun sollen.

Hätte ich bloß auf sie gehört…

Ich ließ beinah mein Kleingeld fallen. Der Hobby-Held. Schnell wandte ich mich wieder der Bedienung zu. »Für ihn auch einen und wir bleiben doch hier.«

»Okay. Eure Namen?«

»Peter und«, ich drehte mich fragend um.

»Nathaniel«

Die Verkäuferin nickte, ich bezahlte und komplimentierte Nathaniel durch das überfüllte Café. Während unserer Wanderung stellte ich sicher, dass sich mein später Besucher stets vor mir befand. Nichts wäre peinlicher, als einen Zeugen zu verlieren, der einem von selbst in die Arme lief.

Wir fanden eine etwas separierte Sitzecke und ich warf meine Lederjacke über eine der Rückenlehnen (ähnlich dem deutschen Handtuchweitwurf zur Sicherung der besten Urlaubssonnenliegen). Die Jacke strahlte den typischen Mief einer alten Lederjacke aus, die zu lange dem Großstadtregen ausgesetzt gewesen war. Scheußlich, aber irgendwie auch vertraut und damit gut nach so einem Tag. Es regnete schon den ganzen Abend. Was mich zu einer irritierten Beobachtung brauchte: Wie lange war dieser Nathaniel schon hier? Sein weißes Hemd hatte nicht einen Wasserfleck.

Nachdem ich ihm eingeschärft hatte, zu warten, kämpfte ich mich wieder zurück, um unsere Getränke abzuholen. ›Peter‹ und ›Nate‹. Das waren dann wohl wir. Ich nutzte den Moment, um in der Dienststelle Bescheid zu geben, dass sich der gesuchte Zeuge in meiner Obhut befand und wohl auf war – zumindest nach meinem ersten Eindruck.

Als ich wieder am Tisch ankam, saß Nate mit verschränkten Händen und nachdenklichem Blick da. Rückblickend würde ich sagen, er sah aus wie ein betender Mönch. Wie ein unerfreulich gutaussehender betender Mönch. Ich hatte mich vorhin in der Bank geirrt. Kein Durchschnittstyp. Nur ein Durschnittslook. Ich ließ mich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen. »Also Nate«, ich stellte ihm seinen Kaffeebecher vor die Nase, »das war ja heute ein verdammt aufregender Tag oder?«

»Sie können gut mit Menschen umgehen, Peter. Sie hätten Rob sicher auch aufhalten können. Aber ich musste auf Nummer sicher gehen. Sehen Sie mir mein Eingreifen bitte nach.«

»Aber, aber. Ich habe zu danken.« Diese Ausstrahlung. Irgendwas stimmte mit diesem Typen nicht. Ich ging im Kopf all die Dinge durch, die wir in Sachen Verhandlung und Profiling gelernt hatten. Aber er schien in kein Schema zu passen. »Auch danke für das Kompliment im Übrigen. Sagen Sie, Nate, kennen wir uns denn bereits? Das wäre mir sehr unangenehm, weil ich mich nicht an Sie erinnern kann.«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn sie meinen Namen nicht abkürzen würden. Dann fehlt ihm das Entscheidende – und nein, Sie kennen mich noch nicht.«

Interessant. Der Vorname reichte ihm, aber bei der Verkürzung reagierte er. Er blieb dabei höflich und ruhig, aber ich konnte regelrecht spüren, wie dringend ihm dieses Anliegen war. Und dann diese Formulierung: ›Sie kennen mich noch nicht‹. Aber er mich schon? Hatte ich einen Stalker? Eine Fixperson im Polizeidienst wäre nicht ungewöhnlich für einen Mann mit Heldenkomplex. Wahrscheinlich hätte er sich noch weiter in die Ermittlungen eingeklinkt, wäre der Einsatz nicht abgeschlossen. Vielleicht hatte er mich auch auf früheren Einsätzen heimlich beobachtet.

Ich musste vorsichtig sein. Jede zu persönliche oder zu neugierige Frage könnte ihn verschrecken. Also das Wichtigste zuerst.

»Warum mussten Sie ›auf Nummer sicher gehen‹, Nathaniel?« Ich nutzte absichtlich seine Wortwahl und auch den vollen Namen. Ich wollte, dass er sich so verstanden und wohl wie möglich fühlte. Ein Vertrauensverhältnis aufzubauen war wichtig. Auch wenn das bedeuten würde, dass das ein langes Gespräch werden konnte.

Hoffentlich wirkte der Kaffee schnell.

»Nun. Ihnen durfte nichts passieren, Peter. Deshalb bin ich da.«

»Danke für Ihre Hilfe, Nathaniel! Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, auf mich aufzupassen.« Ein selbsternannter Schutzengel. Klasse. Wir hatten vorhin wirklich Glück gehabt. Für die Presse war der Typ vielleicht ein Held, aber er hatte ganz offensichtlich nicht mehr alle Murmeln auf der Leiste. Bei ihm Zuhause würde ich wahrscheinlich einen Altar finden, versteckt im Kleiderschrank. Mit lauter Kerzen und heimlich aufgenommenen Bildern von mir. Gruselig. Hätte nicht gedacht, dass mir mal so etwas passieren könnte. Ich war ein Durchschnitts-Bulle. Niemand besonderes. Aber das brachte mich auf meine nächste Frage: »Und wo wohnen Sie, Nathaniel?«

»Oh, wir haben hier keine bleibende Stadt.«

›Wir‹? Hieß das, er gehörte einer Gruppe an? Und irgendwie klang das wie ein Zitat. Irgendetwas, das ich aus Kindertagen kannte. Vielleicht aus der Bibel? Dann könnte das ›wir‹ auf eine Sekte oder zumindest irgendeine Freikirche hinweisen. Hoffentlich keiner dieser religiösen Fanatiker. Das waren die Schlimmsten. Uneinsichtig, kaum beeinflussbar und unberechenbar, weil sie den Tod am Ende noch für etwas Gutes hielten.

Dann hätte er seinen Tod durch Robs Bombe noch als angemessenes Opfer für seine Mission gesehen, wenn vorhin etwas schief gelaufen wäre.

»Heißt das, Sie haben hier keine Wohnung?«

»So ist es.«

»Okay. Das tut mir Leid, Nathaniel.«

»Das muss es nicht. Ich fühle mich überall Zuhause.«

Also ein obdachloser Landstreicher. Würde schwer werden, ihn in der City wiederzufinden. Ich musste so viele Fragen wie möglich klären.

»Und hatten Sie denn keine Angst?«

»Aber nein. Das ist doch meine Aufgabe und wir alle sind mit dem ausgestattet, was wir für die uns zugedachte Aufgabe benötigen.«

Merkwürdig. Wortwahl und auch seine Kleidung und deren Zustand sprachen eigentlich nicht für einen Obdachlosen. Aber er machte auch nicht den Eindruck, mich anzulügen.

»Oh, ich kann gar nicht lügen, Peter.«

»Das hätte ich auch nie vermutet!«, versicherte ich ihm schnell. Sah man mir meine Zweifel und Gedanken so sehr an? Ich musste vorsichtig sein. Nate war offenbar auch ein sehr aufmerksamer Beobachter. Das wiederum passte in das Profil, das in meinem Kopf gerade entstand. Aber mir fehlten noch zu viele Informationen. Ich brauchte ein paar mehr Basics. »Sagen Sie, Nathaniel ist ein großartiger Name. Hat er eine besondere Bedeutung?«

Die Frage schien ihn zu freuen. Eigentlich war sie nur als Überleitung geplant, aber manchmal waren die ungeplanten Antworten die hilfreichsten. »Nathaniel ist Hebräisch und wird aus den Vokabeln ›natan‹, ›geben‹, und ›el‹, ›Gott‹, gebildet. Er bedeutet also ›Gott gegeben‹ oder auch ›Gabe Gottes‹.«

»Ah! Kein Wunder, dass Sie Wert auf den zweiten Teil ihres Namens legen. Apropos zweiter Teil. Wie heißen sie mit Nachnamen, Nathaniel?«

»Ich habe keinen. Da wo ich herkomme, zählt nur der Name, den uns unser Vater vor Anbeginn der Zeit gegeben hat.«

Definitiv religiöse Sekte. Oh man. Das war wirklich nicht mein Tag. »Verstehe. Nun. Und wo kommen Sie her? Ist das der Ort, an den Sie auch jetzt wieder zurückkehren?« Vielleicht konnte ich ihn überreden, ihn nach Hause zu fahren. Dann wüsste ich, wo er zu finden war.

»Ich habe nicht vor, zurückzukehren. Meine Aufgabe ist noch nicht beendet. Ich wurde vorübergehend zu Ihrem Schutz abgestellt und nun, da sie mich sehen, werde ich bleiben.«

Was zum Geier?! Wie kam ich aus der Nummer wieder raus? Das hieß, weil ich ihn jetzt bemerkt hatte, würde er mich nicht mehr heimlich beobachten, sondern mir ganz offen hinterherwackeln?

»Ahm. Hören Sie, Nathaniel, das ist wahnsinnig nett von ihnen und so. Aber meine Jungs von der Einheit passen schon auf mich auf und nun ja, meine Frau würde ziemlich grantig aus der Wäsche gucken, wenn ich unangemeldet Besuch mitbrächte. Noch dazu einen Fremden«, ich hob beschwichtigend die Hände, »nichts für ungut.«

»Peter, warum lügen Sie mich denn plötzlich an? Sie haben doch gar keine Frau. Seit ihre Mutter in die Entzugsklinik eingewiesen wurde, leben Sie allein in einer 3-Zimmer-Wohnung in Berlin-Marzahn.« Er sah mich so ekelhaft mitleidig an, während er mir mein bestgehütetes Geheimnis offenbarte – mitten in einem Berliner Coffee-Shop.

WIE ZUR HÖLLE…!?

Das ging wirklich zu weit! Niemand wusste das. NIEMAND! Nicht einmal mein Partner Clemens. Ich hatte dafür gesorgt. Der Punkt war endgültig erreicht, ab dem ich auf die Streitschlichter-Regeln und Psycho-Glückskeks-Weisheiten schiss.

»Es reicht mir mit Ihren Spielchen! Wer sind Sie und was wollen Sie?« Automatisch zuckte meine Hand an meine Hüfte – dahin, wo im Dienst meine Waffe im Halfter saß. Ich fühlte mich plötzlich alles andere als wohl.

»Ah, jetzt fangen die unangenehmen Fragen an.« Er nickte wissend. »Sie werden es wahrscheinlich nicht glauben, aber ich bin ein Bote des Herrn und wie bereits erwähnt zu ihrem Schutz abgestellt.«

»Ein Bote des Herrn.«

»Ein Engel, wenn Sie so möchten.«

Ein Engel. Na klar. Klasse. Ein verrückter, religiöser Stalker mit Allmachtsfantasien und ohne Todesangst (wie er heute schon eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte). Mein Mund war trocken. Ich exte den inzwischen kalten Kaffee – auch um Zeit zu gewinnen und mich irgendwie zu sammeln.

Dann zwang ich mich zu einem Lächeln.

»Dann sind sie wohl sowas wie mein persönlicher Schutzengel.«

»Nein, nein. Das ist gewissermaßen eine andere Abteilung. Ich bin einer der Boten der Apokalypse.«

Der Bote der Apokalypse starrte versonnen in seinen Kaffeebecher. Er war leer. Wann hatte er den getrunken? Und viel wichtiger: WAS LIEF HIER?!

Wie sollte man bei solch hirnverbranntem Schwachsinn die Ruhe bewahren? Vor allem, während dieser selbsternannte Flattermann so ruhig blieb. Spiel um Himmelswillen mit, schoss es mir durch den Kopf.

»Also schön. Apokalypse, hm? Aber dann wäre die Bombe doch nicht das Problem gewesen oder hat es Gott nicht gern, wenn ihm jemand die Show stiehlt?«

»Ein Mensch wäre wohl schwerlich dazu in der Lage, auch nur den Schatten einer Mikrobe auf Gottes von Ewigkeit her bestehende Pläne zu werfen.«

»Aber warum kümmert sich dann so ein wichtiger Engel wie Sie – ein Bote der Apokalypse immerhin – um so einen lächerlichen Mikroben-Schatten?«

»Wie ich schon sagte, Peter: Ich bin hier, um Dich zu schützen.«

Er war Zeuge und für die Presse sowie alle Anwesenden auch ein Held, aber vor allem schien er mir unberechenbar zu sein. Und potentiell gefährlich. Aber aus irgendeinem Grund hatte er eine Verbindung zu mir und auch wenn mir die nicht geheuer war, würde ich sie als getreuer Diener des Gesetzes nutzen, um an noch mehr brauchbare Informationen zu gelangen.

Vielleicht hatte er ja nur dieses Verbrechen vereitelt, weil es nicht in seinen eigentlichen Plan passte. Er hat von einer Gruppe geredet und von der Apokalypse. Vielleicht eine Art Terrorzelle. Vielleicht planten sie einen umfassenden Schlag gegen die Hauptstadt – oder sogar noch mehr. Ich musste herausfinden, wie er zu Waffen stand. War er ein pazifistischer religiöser Spinner oder ein fanatischer religiöser Krieger?

»Was hätten Sie denn gemacht, wenn der Typ nicht auf Sie gehört hätte? Vielleicht sind Engel ja kugelsicher, aber Bomben?«

»Natürlich hat er auf mich gehört; ich wusste doch, was ihn dazu gebracht hatte, diesen Schritt zu gehen. Und wenn man die Gründe für menschliches Handeln versteht, dann kann man passend reagieren, um es umzukehren oder aufzuhalten.«

»Und was hat ihn dazu gebracht, aufzugeben?«

»Ich habe ihm vergeben.«

»Ach so! Na dann ist das natürlich klar.«

Nathaniel lächelte weltfremd vor sich hin und sah auf irgendetwas direkt hinter mir. Ich widerstand der Versuchung, mich umzudrehen und starrte ihn stattdessen weiter an.

Dann reagierte er doch noch – wenn auch sicher nicht wegen meines knallharten Polizei-Blicks.

»Ein Mensch, der bereit ist, sein eigenes Leben zu beenden, hält nicht viel von sich. Zu hören, dass er mehr wert ist, als er sich zugesteht, hilft dabei, seinen Lebenswillen neu zu entdecken. Und nein, wir sind nicht kugelsicher, aber unsere Flügel sind nicht von dieser Welt und deshalb auch von nichts aus dieser Welt zerstörbar.«

»Flügel.« Es wurde ja immer verrückter. »Welche Flügel? Ich dachte, Sie wären ein Engel ohne Flügel. Ich seh nichts.« Ich reckte mich und versuchte – zum Schein – auf seinem Rücken irgendetwas zu erkennen.

»So leicht abzulenken«, murmelte er und hatte damit leider recht. Aber ich glaubte nun mal nur, was ich sah. Sollte er mich doch als Reinkarnation des ungläubigen Thomas identifizieren.

»Wer nur glaubt, was er sieht, hat ein schweres Los gezogen, mein Sohn.« Erst das Sie, dann das Du und jetzt war ich sein Sohn? Er sah jünger aus als ich. Zumindest nach einer Doppelschicht, wie ich sie hinter mir hatte.

Ich wollte gerade etwas erwidern, das mit einem Drogentest und einer Nacht in der Ausnüchterungszelle zu tun hatte, als es begann: Die Lampen im Coffee-Shop begannen zu flackern und nacheinander blitzten sie erst hell auf, um dann auszugehen. Je näher die aufblitzenden Lampen waren, desto deutlicher sah ich sie: Die zwei großen Schatten, die sich hinter Nathaniel ausbreiteten. Es waren mit jedem Blitz nur Sekundenbruchteile, aber das war entweder der beste Trick, den ich je gesehen hatte, oder so verrückt es auch klang: die Wahrheit. Rückblickend würde ich sagen: das war der Moment, in dem ich begann an meinem klaren Menschenverstand zu zweifeln und an seinen Mist zu glauben.

Natürlich nur rückblickend. In diesem Moment wiederholte sich in meinem Kopf nur immer wieder eine Frage: Wie hatte er das gemacht?

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